Nach dem 7. Oktober 2023: Wo bleibt die Solidarität mit Israel? (2024)

Im Mai 2023 verlegte Gunter Demnig in Nürnberg den 100.000. Stolperstein. Seine Idee, mit kleinen, quadratischen Messingplatten auf den Gehwegen an Juden und Jüdinnen zu erinnern, die von den Nationalsozialisten verschleppt und ermordet wurden, ist ein europäisches Erfolgsprojekt geworden.

In sehr vielen großen und kleinen Orten erforschen Geschichtsvereine, Heimatmuseen, Nachbarschaftsinitiativen das Schicksal der Ermordeten und beschäftigen sich mit der NS-Geschichte. Das historische Interesse lässt nicht nach.

Zugleich wächst der Hass auf die lebenden Juden und Jüdinnen. Schon vor dem 7. Oktober 2023 trauten sich etwa jüdische Jugendliche nicht zu erzählen, dass sie jüdisch sind, aus Angst, beleidigt und bedroht zu werden. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel gibt es für Judenhasser und -hasserinnen kein Halten mehr.

Das Bundeskriminalamt verzeichnet eine massive Zunahme antisemitischer Straftaten. In NRW stieg die Zahl im ersten Halbjahr 2024 gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr um 85 Prozent – die Hälfte hatte einen rechten oder rechtsextremen Hintergrund. In einer aktuellen Umfrage in NRW stimmten fast ein Viertel der Befragten modernen antisemitischen Erzählungen zu, etwa dass es eine "jüdische Weltverschwörung" gebe. In anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern teilte Ende September mit, dass in Bayern der auf Israel bezogene Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 um mehr als 1000 Prozent zugenommen habe. Anfang September wurde ein Anschlag auf das NS-Dokuzentrum und das israelische Generalkonsulat in München gerade noch verhindert.

Dabei schockierte der Überfall der Hamas auf Israel auch in Deutschland viele Menschen. Wieder waren Jüdinnen und Juden Opfer eines fürchterlichen Massakers geworden. Wieder sah man Jüdinnen und Juden hilflos, trauernd, weinend. In etlichen Orten fanden sich Menschen zu Solidaritätsbekundungen zusammen, bildeten Lichterketten, entzündeten Kerzen vor Synagogen. Doch die Solidarität und das Mitgefühl hielt bei vielen nur wenige Wochen – nur so lang, bis Israel begann, sich zu verteidigen und mit aller Härte zurückzuschlagen. Seitdem gelten Israel und – in der antisemitischen Verallgemeinerung – alle Juden als Täter. Bemitleidenswerte Opfer sind die anderen, die Palästinenser, die Libanesen.

Die Täter-Opfer-Umkehr ist ein judenfeindliches Muster, das seit 2000 Jahren verfängt. Die Bibel gibt den Juden die Schuld an Jesu Tod – nicht etwa der römischen Besatzungsmacht, die ihn hinrichtete. Auch im Mittelalter wurde Juden kollektiv unterstellt, schlimme Verbrechen zu begehen, obwohl sie immer wieder grausam verfolgt und ermordet wurden.

Auch die Täter-Opfer-Umkehr nach dem 7. Oktober 2023 ist absurd. Denn es war die Terrororganisation Hamas, die Israel überfallen und 1139 Menschen bestialisch niedergemetzelt hat. Dafür wurde die Hamas seit vielen Jahren ideologisch unterstützt, ausgebildet und befeuert von anderen Terrororganisationen wie der Hisbollah. Und vom Iran, der die Vernichtung Israels als Staatsziel hat.

Zehntausende Palästinenser wurden in den vergangenen Monaten durch israelische Bomben getötet. Ein unfassbares Leid! Aber dass so viele Menschen tot sind, liegt auch daran, dass die Hamas den Gazastreifen untertunnelt hat und dadurch sehr bewusst und gezielt die eigene Bevölkerung in Geiselhaft genommen hat.

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Der Antisemitismus kommt von rechts und von links, es gibt den islamistischen und den christlichen, er breitet sich aus unter Studenten und in Fußballstadien, in der Kulturszene und am Stammtisch. Aus allen Ecken quillt der Judenhass hervor. Warum verfängt die Täter-Opfer-Umkehr so sehr? Warum fällt es vielen so schwer, die Fakten zu sehen? Natürlich kann man die israelische Regierung zu Recht kritisieren – für die Art der Kriegsführung, für die mangelnde Versorgung der Flüchtlinge. Und ja, Netanjahus Verbündete sind rechtsradikal und säen Hass. Darin ähneln sie den Hamas- und Hisbollah-Extremisten. Aber das macht Israel nicht zu einem Täterstaat und schon gar nicht alle Juden weltweit per se zu Aggressoren oder schlechten Menschen.

Israel führt jetzt an mehreren Fronten Krieg. Menschen in Israel sorgen sich, wie lange der Iron Dome wohl die Raketen der Hisbollah und aus dem Iran abfangen kann. Und Juden und Jüdinnen in Deutschland fühlen sich von ihren Nachbarn im Stich gelassen. "Das Sicherheitsgefühl für jüdische Menschen hat leider sehr stark abgenommen. Man ist in vielen Situationen auf sich alleine gestellt", sagte Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in München im September der "Süddeutschen Zeitung". Sie erzählte, dass ihre Enkelin sie in München besucht, aber ihren Besuch vorzeitig abgebrochen habe, weil sie sich in Israel sicherer fühle als in Deutschland. Knobloch sagte auch, dass sich viele in der jüdischen Gemeinde mittlerweile fragten, ob es richtig gewesen sei, nach Deutschland zu kommen.

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Aber diese Hilferufe aus der jüdischen Gemeinschaft prallen offenbar an vielen ab. Der Bundestag hat die versprochene Entschließung zum Schutz jüdischen Lebens immer noch nicht verabschiedet. Die in weiten Teilen rechtsextreme AfD fährt einen Wahlsieg nach dem anderen ein. Und was macht die große Mehrheit, die nicht AfD wählt, die vielen Geschichtsbewussten? Wie wäre es, wenn alle, die Stolpersteine verlegt haben oder verlegen wollen, Solidaritätsdemos organisieren? Wenn wir statt das 120.000. Messingplättchen in den Boden zu versenken, zu Hunderttausenden auf die Straße gehen und für Israel und die jüdischen Nachbarn hier eintreten? Für die Lebenden – das kostet mehr Mut, als Steine zu verlegen für die Toten.

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